Auf die eigene Wunde schauen/Schweres Rot

von Julianne Csapo


Ich frage mich, was würde ich sehen, wenn ich Jörn Lies Bilder anschaue und ein völlig gesunder, normaler Mensch wäre. Ein Mensch ohne innere Narben, einer der nie leidvolle Erfahrungen gemacht hat, der nie verlassen, gedemütigt oder das unangenehme Gefühl von nachgebendem Boden, verursacht durch Ohnmacht und Befremdung im eigenen Leben und Land, erlebt hat.

Es wäre vermutlich nicht viel zu sehen.

Ein Nichtviel von der Art, welches die Indios aus der Geschichte des Kolumbus erlebten, als sie die
Santa Maria nicht haben sehen können. Sie reagierten laut der Beschreibungen erst mit der Zeit auf das Schiff, dann aber umso heftiger; oder wie die Aborigines, die die Fotografie eines Menschen nicht mit seiner tatsächlichen Erscheinung überein bringen konnten, bevor sie nicht die dazugehörigen Dekodierungstechniken lernten.

Jörn Lies bearbeitet Fotos, Propaganda- und Dokumentarfotografien, Fotos aus Zeitungen und Zeitschriften. Oft sind diese Bilder in Kriegskontexten entstanden, aber auch Portraits befinden sich in seinem Archiv.

Er übermalt grosse Teile oder fügt nur ein winziges Detail hinzu. Oft markiert er auf diesen Bildern
eine Zone - einen bestimmten Bereich - indem er ihn mit einem Kugelschreiber rot übermalt. Das Rot ist transparent, es bleibt das vorherige Motiv deutlich erkennbar. Doch beherrscht einen neue Form jetzt
das Bild.

Wir sehen sprichwörtlich rot, wenn wir wütend sind und verletzt, wenn es brennt vor Schmerz. Wörtlich nahm schon Alfred Hitchcock diese Redewendung, als er in dem Film Marnie einen Rotfilter verwendete, um die emotionale Spannung der Protagonistin für den Zuschauer anschaulich zu machen.

Die Spannung steigert sich bei Jörn Lies Bildern aber nicht bloß anhand eines Narrativ, das sich aus
dem Kontext des Bildes ergibt. Es sind die Sprünge zwischen den einzelnen rot markierten Ebenen, die einen Schwindeln lassen.
Zuerst ein völlig zerstörter Panzer. Er liegt ausgeweidet wie ein Tier und doch sachlich dokumentiert auf einem Feld. Wenn Lies ihn rot anmalt, erscheint seine eigenartig florale Form.
Daneben Elvis als jungen Soldaten, der sich an seiner rot ausgemalten Tasche festhält und dabei etwas verloren auf dem Flugplatz umherschaut.
Marina Abramovic und Ulay halten sich gegenseitig an einem zwischen ihnen gespannten Bogen in Balance, der ganze sie umgebende Raum ist rotgemalt.
Oder das Bild eines Astronauten in den 1960er Jahren, ebenfalls komplett rotgemalt, mit Ausnahme seines linken Armes, dazu der Titel des Bildes: Erzählt mir nichts von euren Göttern.

Die Schwere des Rot zeigt sich erst im Zusammenhang. Im emotionalen Gebiet, daß zwischen der Zerstörung, der Tasche, der feindlichen Umgebung sich entfaltet. Doch jede Falte ergibt wieder eine neue Falte, denn dieses Feld ist unendlich, das Rot wird immer schwerer.

Jeder Gegenstand kann zum Gegenstand einer Niederlage oder zum Symbol eines Verlustes werden,
jede Luft kann einem manchmal den Atem rauben.

Jörn Lies legt genau hier seine Spuren.