Warum wir keine Fragen mehr stellen

von Werner Brückner


Fragen gestellt zu bekommen ist unangenehm. Es legt den Finger in die Wunden. Immer ist es einfacher vermeintliche Lösungen anzubieten. Darum können wir Erwachsenen auch so herzlich lachen über die Fragen von Kindern.
Ich erinnere mich wie auch ich seinerzeit eine Frage meiner kleinen Tochter "Was ist, wenn . . . ?" beantwortet hatte, sie aber weiter fragte "Und wenn nicht?"
— Inzwischen ahne ich die Dimension dieser Rückfrage.

Jörn Lies fragt uns mit seinen Fotografien. Er fragt nach. Wie wir die Welt sehen, und was wir mit ihr zu tun gedenken, was wir in ihr schon getan haben. Denn schon längst kümmert uns Menschheit oft nichts außer uns selber; und wir begreifen selten genug, dass wir uns verloren haben; wie immer austauschbarer, immer unwesent-
licher wir geworden sind.
Seit dem Gleichnis der Vertreibung aus dem Paradiese unserer Gier wegen haben wir immer wieder eins drauf gesetzt. Erst nahmen wir 'nur' den anderen das Essen weg oder erschlugen sie mit der Keule, schließlich erfanden wir das Maschinengewehr, den Genozid, die industrielle Mast. — Wahrlich wir sind aus dunklem Stoff gewebt, und die Tünche ist dünn.

Wir stellen nicht mehr die Fragen, was wir selbst aus den 'Dingen' gemacht haben, was wir noch alles damit tun und antun werden und warum. Uns selber, den anderen. Unsere Lebensläufe beschränken sich auf: erst ging ich zum Gymnasium, dann studierte ich, heute bin ich Oberstaatsanwalt, ich habe eine Frau, ein Haus, ein Auto, auch Kinder, es geht mir gut! Aber: warum ging ich zum Gymnasium, warum habe ich die Rechte studiert, warum bin ich Anwalt geworden, habe geheiratet, warum diese Frau . . . ? Erst wenn wir bereit sind, uns das Warum beantworten zu wollen, wird das Wozu nicht ewig verborgen bleiben.
Wir haben verlernt, Fragen zu stellen, wir begnügen uns mit beliebigen Antworten auf Fragen, die wir längst nicht mehr stellen. So ist unser Leben leicht geworden. Es wiegt nicht mehr viel, es bedeutet nichts. Und wir merken nicht einmal, das wir den Nachkommenden eine zugige Welt hinterlassen. Keine Höhlen, keine Nester, kein Zuhause!

Und doch hat der Mensch auch ein Vergeben erfunden, ein Sich-selber-schenken, ein Genießen und Glücklichsein, das andere reicher statt ärmer macht! Schönheit, Freude, Liebe — diese wunderbaren individuell-menschlichen Leidenschaften —,
sie sind schon vor Urzeiten unsere leider recht kleine bessere Seite gewesen.
Allein aber, daß sie möglich ist, das sie nach dem blutigsten Gemetzel, den größten Verbrechen immer wieder aufleuchtet, dass diese andere Seite in der vieltausend-
jährigen Geschichte nicht zu vernichten war, das könnte unsere Existenz rechtfertigen.

Zu solchen Fragen vorzudringen, scheint mir ein Ziel der künstlerischen Arbeit von Jörn Lies zu sein. Selten ist ein fotografischer Blick so erschreckend kritisch und zugleich so mitleids- und liebe-voll. Er ist ein aufmerksamer Betrachter, der den Dingen auf den Grund gehen will.
Es sind keine lauten Bilder, die da fotografiert sind. Dem flüchtigen Auge zeigen sie Waldwege, übrig gebliebenes Toast, diverse junge Leute scheinbar nur unterschied-
licher Art in Liebe und in Traurigsein. Aber immer ist mehr abgebildet als abge-
lichtet, eine oder mehrere zusätzliche Ebenen dem, der sehen will.

Wer das Schreien nicht in sich hört, mag sich am Kunstvollen der Gestaltung, an der Präzision des Auges, am Beherrschen der fotografischen Technik ergötzen. Wirklich deuten wird er die Bilder kaum können, denn sie bedürfen in ihrer so scheinbaren Leichtigkeit der Betroffenheit vom Leben. Dann wird man auch den Bildautor erahnen können.
Ist Jörn Lies einer, der uns ändern will? Ist er einer, der die Umstände ändern will, unter denen wir so bleiben, wie wir sind? — Er möchte uns gern anders haben. Aber uns modeln zu wollen nach seinem Bilde, das untersteht er sich nicht. Er ist voller Hoffnung, es möge sich zum Guten wenden und voller Verzweiflung, weil er be-
fürchtet oder gar ahnt, dass nichts besser oder gar gut werden wird. Um Kohelet anzuzitieren: "Was aber ist der Mensch? . . ." — Und vor allem: er schließt sich nicht aus, er zeigt nicht mit dem ausgestreckten Finger und dünkt sich selber den Objektiven.

Jörn Lies ist ein moderner Künstler, dem es nicht darauf ankommt, 'modern' zu sein. Wozu auch? Der Begriff 'modern' bleibt stets eine Art 'Hilfsverb' zwischen Inno-
vation und Konservativismus. Aber er stellt die Fragen unserer Zeit, nämlich jene Fragen, die die Fragen aller Zeiten waren; die nach dem Unveränderlichen in uns und die nach dem möglicherweise doch Veränderlichen. Er ist in meinen Augen modern im Sinne eines Alighieri oder Bosch, eines Büchner, Lermontow.
Sehr groß ist die Zahl derer nicht, die uns konfrontiert haben mit uns selber, in unserer Großartigkeit, unserem Alleinsein, unserer Verantwortungslosigkeit. Und wenige davon werden heute in der Kunstgeschichte noch benannt werden können. Das vergisst man all zu oft!

Lies' Bilder verlangen einen aufmerksamen Betrachter, der bereit ist nicht 'die Welt', sondern vor allem sich selber in der Welt zu erblicken. Ich beneide ihn um seine Fragen an uns, seine Sehnsucht, seine sehnende Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, die er gezwungen sein wird mit zunehmender Wehmut zu Ende zu bringen.

Wer Fragen stellt gibt Hoffnung — Hoffnung, das steinerne Herz unserer menschlichen Existenz zu erweichen. Vielleicht sogar Hoffnung auf Zukunft.



September 2008